Hinter dem Haus, in dem wir hier in Berlin wohnen, stand einmal ein Gefängnis. Es sind nur 250 Meter Luftlinie bis dorthin. Wir haben zu dieser Seite kein Fenster, denn da ist die Brandwand. Dahinter wurde der Seitenflügel vom Nachbarhaus im letzten Weltkrieg weggebombt. Geblieben ist hinter der Brandwand eine kleine von Gebüsch überwucherte Brache, auch einige Bäume sind dort wild gewachsen. Manchmal kann man hören, wie bei Wind die Baumwipfel gegen die Wand schlagen.
Wenn ich dieses Geräusch höre, denke ich: „Würde man ein kleines Fenster einbauen, könnte man hinübersehen.“ Man könnte auf den Platz schauen, auf dem bis 1974 das Gefängnis stand. Ein kleines Denkmal steht dort, eine Tafel, auf der geschrieben steht: „Hier stand das Frauengefängnis, in dem Rosa Luxemburg wegen ihrer revolutionären Gesinnung inhaftiert war.“
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Rosa Luxemburg war mehrfach in diesem Gefängnis, vor 109 Jahren saß sie dort zum zweiten Mal. Sie verbrachte dort zwölf Monate in einer Gefängniszelle, weil man sie wegen „Aufforderung zum Ungehorsam gegen Gesetze und Anordnungen der Obrigkeit“ verurteilt hatte. Rosa Luxemburg hatte sich für Frieden und gegen Krieg ausgesprochen und auf zwei Versammlungen zu Kriegsdienst- und Befehlsverweigerung aufgerufen: „Wenn uns zugemutet wird, die Mordwaffen gegen unsere französischen oder anderen ausländischen Brüder zu erheben, so erklären wir: ‚Nein, das tun wir nicht!‘“
Nachdem sie schon angeklagt, aber noch nicht inhaftiert war, hatte sie es ausgeschlagen, in die Emigration zu gehen. Später lehnte sie auch ein Gnadengesuch beim Kaiser ab. Stattdessen nutzte sie gemeinsam mit ihren Anwälten das Gerichtsverfahren gegen sie selbst, um für Frieden zu werben und auf den Charakter des drohenden Krieges hinzuweisen. In diesem Zuge präsentierten Luxemburgs Anwälte dem Gericht 30.000 Zeugen für Soldatenmisshandlungen. Die Rede von Rosa Luxemburg vor der Frankfurter Strafkammer wurde später unter dem Titel „Militarismus, Krieg und Arbeiterklasse“ veröffentlicht. Rosa Luxemburg sagte:
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„Wir sind der Auffassung, daß Kriege nur dann und nur so lange geführt werden können, als die arbeitende Volksmasse sie entweder begeistert mitmacht, weil sie sie für eine gerechte und notwendige Sache hält, oder wenigstens duldend erträgt. […] Wenn, sage ich, die Mehrheit des Volkes zu der Überzeugung gelangt, daß Kriege eine barbarische, tief unsittliche, reaktionäre und volksfeindliche Erscheinung sind, dann sind die Kriege unmöglich geworden – und mag zunächst der Soldat noch den Befehlen der Obrigkeit Gehorsam leisten!“
Der Militarismus als Stütze der Klassenherrschaft
Ihre Ablehnung des Militarismus hatte Rosa Luxemburg schon 15 Jahre zuvor (1899) in einer scharfzüngigen Erwiderung auf Veröffentlichungen der Sozialdemokraten Max Schippel und Karl Kautsky ausgedrückt:
Rosa Luxemburg spricht auf einer Versammlung nach dem zweiten Internationalen Kongress der Sozialdemokratie, Stuttgart, 1907.United Archives International/imago
„Der Militarismus, der für die Gesellschaft im ganzen eine ökonomisch völlig absurde Vergeudung ungeheurer Produktivkräfte darstellt, der für die Arbeiterklasse eine Herabsetzung ihres wirtschaftlichen Lebensmaßstabes zum Zwecke ihrer sozialen Versklavung bedeutet, bildet für die Kapitalistenklasse ökonomisch die glänzendste, unersetzliche Anlageart, wie gesellschaftlich und politisch die beste Stütze ihrer Klassenherrschaft.“
Die intellektuell brillante Argumentation steigerte die Bekanntheit von Rosa Luxemburg erheblich – und ihre Position fand unter Sozialdemokraten viel Zustimmung. In einem anderen Aufsatz schrieb sie:
„Wenn wir die Geschichte betrachten, […] müssen wir konstatieren, dass der Krieg den unentbehrlichen Faktor der kapitalistischen Entwicklung bildete. […] [Für die Kapitalistenklasse] ist heute der Militarismus in dreifacher Beziehung unentbehrlich geworden: erstens als Kampfmittel für konkurrierende ‚nationale‘ Interessen gegen andere nationale Gruppen, zweitens als wichtigste Anlageart ebenso für das finanzielle wie für das industrielle Kapital, und drittens als Werkzeug der Klassenherrschaft im Inlande gegenüber dem arbeitenden Volke.“
Open Source
20.05.2024
Generalstreik als Antwort auf den Krieg
Als dann 1912 ganz Europa auf einen Krieg zusteuerte, reiste Rosa Luxemburg als Vertreterin der SPD zu verschiedenen europäischen Sozialistenkongressen, darunter einem in Paris, wo sie gemeinsam Jean Jaurès die europäischen Arbeiterparteien zu dem Versprechen bewegen konnte, beim Kriegsausbruch zum Generalstreik aufzurufen.
Als der Balkankrieg 1913 dann den Weltkrieg beinahe schon auslöste, organisierte Rosa Luxemburg Demonstrationen gegen den Krieg. Dabei wagte sie, den preußischen Militarismus direkt herauszufordern, und rief zur Verweigerung des Kriegsdienstes auf – und kam dafür ins Gefängnis. An die eine Haft schloss bald die nächste an, die Haftbedingungen ruinierten ihre Gesundheit.
Erst 1918 nach der Novemberrevolution, die zum Sturz des Kaisers und zur parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik führte, kam Rosa Luxemburg frei. Der Krieg war vorbei, aber Rosa Luxemburg dachte daran, dass weiter „Mordwaffen“ produziert werden: „Die Vergeudung, wie sie heute auf Schritt und Tritt stattfindet, muß aufhören. So müssen natürlich die gesamten Kriegs- und Munitionsindustrien abgeschafft werden.“
Auch Karl Liebknecht, der als einziger Reichstagsabgeordneter am 2. Dezember 1914 gegen die Kriegskredite stimmte, büßte seinen Einsatz für Frieden im Gefängnis, 1916 wurde er wegen „Kriegsverrats“ zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt.
Denkmal zur Erinnerung Rosa Luxemburgs am Ort ihrer ErmordungSchöning/imago
Rosa Luxemburg hätte vermutlich noch einiges mehr zum Thema Krieg gesagt und geschrieben, aber wenige Wochen später wurden sie und Karl Liebknecht ermordet. Heute haben wir eine Rosa-Luxemburg-Straße und einen Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin, ein Rosa-Luxemburg-Steg erinnert an die Stelle, an der ihr Leichnam im Landwehrkanal gefunden wurde.
Es gibt zwei Karl-Liebknecht-Denkmäler, eine Karl-Liebknecht-Straße und ein Karl-Liebknecht-Haus. Und nicht zuletzt ist da die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die als einer der großen Träger politischer Bildungsarbeit in Deutschland jährlich 77,8 Millionen Euro aus Steuermitteln erhält (Stand 2022) und erst kürzlich eine neue Stiftungszentrale am Berliner Ostbahnhof hat bauen lassen. Ob diese Denkmäler und Einrichtungen unsere Gesellschaft vor neuen Kriegen bewahren?
Von Nicolas Butylin
Berlin
10.09.2022
In letzter Zeit höre ich die Zweige der Bäume auf der Brache hinter unserem Haus öfter gegen die Brandwand schlagen. Ist es der Klimawandel, sind die Zeiten stürmischer? Sicher sind die Bäume auch gewachsen und bieten dem Wind mehr Angriffsfläche. Vielleicht ist aber auch nur meine Wahrnehmung für dieses Geräusch geschärft.
Carl Waßmuth ist Bauingenieur und Autor. Er hat das Bündnis Bahn für Alle mitbegründet und ist Vorstand und Sprecher von Gemeingut in BürgerInnenhand.