Erstmals ist Marc-André ter Stegen vom FC Barcelona die Nummer eins in der deutschen Nationalmannschaft. Und niemand weiss, ob Manuel Neuer je wieder zurückkehren wird.
Stefan Osterhaus, Mainz
4 min
Mittlerweile ist Marc-André ter Stegen 30 Jahre alt. Für Torhüter kein Alter, über das sie sich Gedanken zu machen brauchen, manche sagen sogar, die beste Phase ihrer Karriere stehe ihnen noch bevor.
Insofern könnte dies Marc-André ter Stegen beruhigen, zumal die Jahre zumindest optisch spurlos an ihm vorübergegangen sind: Das Haupthaar spriesst prächtiger als mit 19, auch wirkt er gelassener, nicht mehr ganz so verbissen wie damals, 2014, als er von Mönchengladbach zum FC Barcelona wechselte. Seinerzeit gewann er auf Anhieb mit den Katalanen die Champions League. Für seine Auftritte wurde er mit Lob überhäuft. Lionel Messi gab eine Prognose aus, die nicht einmal gewagt schien: «Er hat alle Anlagen, um der Beste der Welt zu werden.»
Tuchel sagte, es sei Wettbewerbsverzerrung, wenn Neuer auf der Gegenseite im Tor stehe
Der Beste der Welt: Das ist Marc-André ter Stegen nach landläufiger Meinung nicht geworden, viel eher der Belgier Thibaut Courtois, der für Barças ewigen Rivalen Real Madrid spielt. Hätte Courtois gegenwärtig keine Adduktorenprobleme, würden sich die beiden am Dienstag in Köln sogar mit ihren Nationalteams gegenüberstehen.
Das Testspiel gegen Belgien wäre ter Stegens 32.Länderspiel. Und es hat für ihn vor allem deshalb eine spezielle Note, weil er erstmals als Nummer eins zur deutschen Nationalmannschaft angereist ist – in Abwesenheit seines grossen Konkurrenten Manuel Neuer, der sich auf einer Skitour verletzt hat.
Neuer wird dem FC Bayern und dem Nationalteam noch Monate fehlen. Es ist zudem überaus fraglich, ob er je wieder in den Profifussball zurückkehren wird. Und so waren die Fragen vorbestimmt, die ter Stegen zuletzt erreichten: Wie es für ihn sei, erstmals in dieser Rolle zu sein. Welche Perspektiven er sich ausmale.
Berechtigt sind die Fragen allemal. Denn die Situation für ter Stegen ist eine besondere: Er ist zwar unbestritten ein Weltklasse-Goalie, aber sein Aufstieg begann erst, als sich Manuel Neuer längst als Torhüter der deutschen Nationalmannschaft etabliert hatte.
Fünf Mal wurde Neuer als weltbester Goalie dekoriert, Deutschland wurde mit ihm Weltmeister, und die Bayern gewannen vor allem wegen seiner Leistungen zweimal die Champions League. Beim letzten Mal, im Sommer 2020, sagte der damalige PSG- und heutige Bayern-Trainer Thomas Tuchel, dass es Wettbewerbsverzerrung sei, wenn Neuer auf der Gegenseite im Tor stehe.
Der Bayern-Trainer von damals ist der heutige Nationaltrainer: Hansi Flick. Der spricht zwar von einem offenen Konkurrenzkampf. Aber wird Flick die Konsequenz aufbringen, einem genesenen Neuer tatsächlich abzusagen?
An den Qualitäten Marc-André ter Stegens zweifelt niemand.
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Dabei hätte ter Stegen alles Recht, die Ambition, dauerhaft die Nummer eins zu sein, offensiv zu vertreten. Schon einmal hat er sie formuliert, 2019, als Neuer nach einer Verletzung zurückgekehrt war. Seinerzeit stärkte der Trainer Joachim Löw seinem Stammtorhüter den Rücken. Für ter Stegen war es fast schon tragisch, dass Neuer stärker denn je auftrumpfte.
Und es ist nicht auszuschliessen, dass sich der eine oder andere daran erinnert, dass ter Stegen im direkten Duell mit Neuer oftmals nicht sonderlich glücklich aussah. Zumal er nicht nur mit einem anderen Torhüter konkurrierte, sondern mit einem Denkmal.
Den Anspruch zu erheben, die Nachfolge Manuel Neuers bereits jetzt anzutreten, wäre nur legitim
Nur ist die Situation inzwischen eine andere: Neuer wird an diesem Montag bereits 37 Jahre alt. Und ter Stegen hat sich lange genug loyal gezeigt. Den Anspruch zu erheben, die Nachfolge Neuers bereits jetzt anzutreten, wäre nur legitim. Ter Stegen sagt heute: «Ich habe mein Ziel immer klar formuliert. Durch die Verletzung von Manu ist die Situation so, wie sie ist. Ich versuche, meine Chance zu nutzen.»
Ter Stegen ist sich im Klaren darüber, wie heikel die Lage für den Konkurrenten ist. Aber dafür kann er nichts. Die Dinge, die Neuer in München widerfuhren, waren für diesen alles andere als erfreulich. Zwar machte ihm niemand Vorwürfe wegen seines fahrlässigen Verhaltens, sich auf eine Skitour zu begeben. Aber der inzwischen entlassene Trainer Julian Nagelsmann warf Neuers Freund und Goalietrainer Toni Tapalovic aus dem Verein und engagierte seinen alten Hoffenheimer Gefährten Michael Rechner.
Neuer beklagte sich bitterlich in einem Interview mit der «Süddeutschen Zeitung», er warf den Bayern mehr oder minder unverhohlen Illoyalität vor. Ter Stegen wäre also wider Willen der Profiteur einer für seinen Konkurrenten ziemlich unangenehmen Angelegenheit.
Ter Stegen ist kein Mann der grossen Worte. Am Samstag, nach dem 2:0-Sieg der Deutschen in Mainz gegen Peru, trat auch er vor die Mikrofone. Gleich mehrfach freute er sich über einen gelungenen Start ins «Kalenderjahr», so dass mancher ihm vielleicht gerne verspätet ein frohes neues Jahr gewünscht hätte.
Er hatte gar nichts zu tun
Ter Stegen hatte weit weniger zur Analyse des Spiels beizutragen als etwa der Doppeltorschütze Niclas Füllkrug, weswegen der Goalie vielleicht gar nicht unglücklich darüber war, dass die Befragung nicht lange dauerte. Denn über seinen Auftritt konnte er eigentlich gar nicht sprechen. Ter Stegen musste nicht ein einziges Mal eingreifen. Es gab keine Szene, durch welche er hätte belegen können, warum er mehr als nur ein Stellvertreter für Manuel Neuer ist.
Der Samstag war aber nicht nur das Datum des ersten Länderspiels in diesem Jahr. Es war auch der Tag, an dem der FC Bayern seinen neuen Trainer Thomas Tuchel vorstellte. Die Frage, ob der vom entlassenen Nagelsmann engagierte Torhütertrainer Rechner im Klub verbleibe, beantwortete der Sportdirektor Hasan Salihamidzic mit einem deutlichen Ja. Für Marc-André ter Stegen sind das keine schlechten Nachrichten.
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