Boxen: Oleksandr Usyk, Nationalheld der Ukraine gegen alle Wahrscheinlichkeit (2024)

Usyk hat in Wroclaw gegen Daniel Dubois drei wichtige WM-Titel zu verteidigen. Seine Forderungen hat er auch schon direkt an Russlands Präsidenten Putin adressiert, nicht zuletzt, weil er den Krieg nahe zu spüren bekam.

Bertram Job

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Es gibt eine feine, unsichtbare Linie, die einen erfolgreichen Sportler vom nationalen Hoffnungsträger trennt. Wann sie überschritten wird, entscheidet im Zweifel nicht er, sondern jenes Momentum, das man den Lauf der Dinge nennt. So wie im Fall des ukrainischen Profiboxers Oleksandr Usyk, der am Samstag in der polnischen Stadt Wroclaw die Titel im Schwergewicht von drei der vier etablierten Weltverbände (WBA, IBF, WBO) verteidigt.

Ehre für sein Land hatte Usyk bereits 2012 mit dem Sieg im olympischen Turnier in London eingelegt. Und dann gab es noch diesen Fight, um dessen Tragweite er damals nicht wissen konnte: Für ihn war der 15.Kampf der Profilaufbahn, den er 2018 gegen den Russen Murat Gassiew austrug, bloss der Final eines Turniers im Cruisergewicht, den er deutlich nach Punkten gewann – exakt in der Mitte des Moskauer Olympiastadions.

Der Gewinner hatte sich einfach als weltbester Boxer im zweithöchsten Limit beweisen wollen, indem er alle vier WM-Gürtel auf sich vereinigte. Das war für ihn «ein wahr gewordener Traum», wie er, innig umarmt von Gassiew, noch im Ring befand. Darüber hinaus wehrte er sich gegen alle Versuche, ihn für aufgesetzte Zwecke zu erhöhen: «Ich bin kein Superstar. Ich bin nur ein durchschnittlicher Kerl, der etwas gut kann.» Das stimmte zu jener Zeit – fünf Jahre, fünf siegreiche Kämpfe und einen verlustreichen Krieg später kommt dem Nachfahren von Krim-Tataren eine andere Position zu.

Die Erfolge, die Usyk unterdessen im Schwergewicht vorlegt, stehen für die Resilienz einer ganzen, wehrhaften Nation. Ähnlich wie sie war Usyk Aussenseiter, als er 2021 im Tottenham Hotspur Stadium in London dem physisch überlegenen Engländer Anthony Joshua per Punktsieg die WM-Titel entriss. Und er war auch nicht Favorit, als er das Kunststück elf Monate darauf im Rematch in Saudiarabien wiederholte.

Joshua vs. Usyk im September 2021 in London.

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Früher schwieg er zu politischen Themen lieber

Beide Triumphe waren eher mit dem Kopf als durch Gewalt erzielt – und von eindeutigen Gesten begleitet. In London betrat Usyk mit Haarzopf und der traditionellen Kleidung der Tataren den Ring. In Saudiarabien widmete er die Vorstellung explizit der ukrainischen Nation. Die sollte im ersten Sommer des russischen Überfalls «eine Freude» haben, wie er sich ausdrückte. Darum war er entschlossen, die TV-Rechte für die Live-Übertragung in der Heimat aus eigener Tasche zu erwerben – bis die saudischen Veranstalter ihm die Lizenz einfach überliessen.

Die Wandlung des reflektierten Individualisten zum Repräsentanten ist so bemerkenswert wie nachvollziehbar. Welcher exponierte Athlet wollte nur schweigen angesichts der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die sich in seinem Land ereignen? Usyk setzte schon wenige Tage nach Kriegsausbruch einen Appell via Instagram ab: «Stoppen Sie diesen Krieg!», richtete er sich direkt an Russlands Präsidenten Wladimir Putin. «Geben Sie uns keine Ultimaten und Bedingungen. Setzen Sie sich, und verhandeln Sie mit uns ohne Forderungen.»

Eingerückt in die Schutztruppen für die Zivilbevölkerung, konnte sich Usyk dann selbst ein Bild von Not und Leid in Kiew machen. Bis auch die Klitschko-Brüder, die seine Mentoren sind, ihm signalisierten, dass er zwischen den Ringseilen weit mehr für die nationale Sache bewirken könne. Seither sieht sich der 36-Jährige, der früher zu politischen Themen lieber schwieg, wohl noch mehr in der Pflicht.

Verluste hatte auch Usyk einzustecken. Als russische Truppen 2014 die Krim annektierten, besetzten sie auch sein Haus in Simferopol. Notgedrungen bezog er mit seiner Lebensgefährtin ein Domizil in Worsel, nordwestlich von Kiew. Auch das wurde von marodierenden Einheiten verwüstet. Dies belegen Fotos, die der frisch bestätigte Weltmeister auf Instagram postete und eindeutig kommentierte: «Russische Welt! Sie kam auch zu mir! Bestien! Sie haben einfach alles ruiniert...»

Das Anwesen auf dem Land soll inzwischen renoviert sein. Doch die Rolle, welche Usyk quasi aufgedrängt wurde, ist noch nicht zu Ende gespielt. So bezeichnete der Boxer den Kampfeswillen der ukrainischen Truppen als Inspiration, weiterzumachen. In dem Sinne wolle er jede Gelegenheit nutzen, «Ruhm auf die Fahne unseres Landes» zu bringen, wie er vor der Titelverteidigung in Wroclaw betonte – verbunden mit dem Dank für die Unterstützung, welche die Ukraine durch Polen erfahren habe.

August 26th Wroclaw, Poland pic.twitter.com/ThFZ99U7L3

— Egis Klimas (@KlimasBoxing) July 22, 2023

An Mentalität fehlt es seinem Gegner Daniel Dubois offenbar nicht

Aber was ist mit dem sportlichen Gegner? Versierte Beobachter geben sich in der Mehrzahl sicher, dass Daniel Dubois weder mit der Erfahrung noch mit den strategischen Fähigkeiten von Usyk mithalten kann. Was auf einen Abbruchsieg in den höheren Runden zugunsten des zähen, willensstarken Titelverteidigers hinauslaufen könnte. Usyk werde «eine Box-Lehrstunde» geben, ist dessen Manager überzeugt – und allmählich «das Herz von Dubois aufessen».

Andere geben dem um fünf Zentimeter grösseren Herausforderer mit dem imposanten Rücken die Chance auf den einen, entscheidenden Treffer. An Mentalität fehlt es «Dynamite» Dubois offenbar nicht: Im letzten Kampf überwand er drei Niederschläge plus eine Knieverletzung, bevor er triumphierte. Usyk sollte nicht zu sicher sein, sonst könnte sich eine Überraschung ereignen, die einem ganzen Land missfällt.

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